Tuesday Post 05 Mai 2020

von | Mai 5, 2020

Stille kann Dingen etwas Großes verleihen. Wenn man durch menschenarme Straßen fährt, geschlossene Geschäfte sieht, abgedunkelte Restaurants und Cafes anschaut, wenn man am Flughafen unzählige geparkte Flugzeuge erblickt, am Main angetaute Ausflugsschiffe bemerkt, an leeren Sportanlagen und verwaisten Bahngleisen vorbeifährt und einen kaum frequentierten Römerberg begeht, registriert man ein Stück weit erst, wie viele Angebote und Möglichkeiten wir da draußen in normalen Zeiten so haben. Und gleichzeitig erkennt man, wie viele Menschen von dem allseits verbreiteten Wunsch nach Abwechslung, Konsum, Event, Selbstverwirklichung und Luxus leben. Wird das alles wieder so werden? Und was brauche ich eigentlich wirklich davon? Was entspricht meinen Bedürfnissen, was nicht? In diesen Zeiten merken wir ja, wie wenig es braucht, um ein schönes Wochenende zu haben.

Wie es aussieht erleben wir in den nächsten Wochen und Monaten eine allmähliche Rückkehr zur Normalität. Wir werden peu à peu wieder Kontakte mit anderen Menschen haben, werden essen gehen, im Verein Sport machen, werden wieder shoppen, konsumieren – und wahrscheinlich wird es in diesem Jahr irgendwann auch wieder erste Reisen geben.

Viele Menschen wünschen sich das ja: Alles soll wieder so werden wie vorher. Denn da war ja alles gut. Oder nicht? Sich das leisten, worauf man Lust hat, das erleben, was einem Spaß macht. Immer und zu jederzeit. Es war eine Welt, in der das Ziel des Lebens für viele darin lag, sich so viele Wünsche wie möglich zu erfüllen. Eine Prämisse, die sich seit dem 19. Jahrhundert immer mehr durchsetzte und die Grundlage unseres Wirtschaftsmotors ausmacht. Maximale Lusterfüllung als Wachstums-Sprit. Für viele eine Art Religion. „Ich habe und erlebe, also bin ich“, so lautet dieses biblisches Gesetz. Seit vielen Jahren wird uns schon eingeflüstert, je mehr du nur an dich denkst, desto größer bist du, nicht kleiner. Der Gedanke, dass es uns alle glücklich macht, je mehr jeder einzelne in Saus und Braus lebt, war verlockend, verführerisch und wurde ganz bewusst für die Stabilisierung dieses Systems eingesetzt. Der Preis ist hoch, denn je mehr Wünsche wir uns auf der einen Seite erfüllen wollen, desto mehr müssen wir dafür arbeiten. Ein Hamsterrad für viele.

Und wo stehen wir heute? Ist diese Gesellschaft glücklich? Hat uns diese Art zu denken und zu leben zum heißersehnten Glück geführt? Alle Umfragen zeigen, dass diese Gesellschaft trotz allen Reichtums weit weniger glücklich ist als ärmere Länder. In der Öffentlichkeit erleben viele Grobheit, Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Von den sozialen Medien ganz zu schweigen. Noch nie hatten wir in der Geschichte des Landes so viele Erkrankte an Depression oder Burn-Out, Alters-Armut ist für viele Menschen ein großes Thema, die Klima-Krise zeigt deutlich, dass sich die Erde gegen die Ausbeutung durch uns Menschen wehrt, der Graben zwischen den reichen und armen Nationen in der Welt wird nicht kleiner, sondern größer und die Kriegsgefahr in der Welt ist durch den Reichtum in einem Teil der Welt nicht gebannt, im Gegenteil.

Wäre es da nicht an der Zeit, ein paar Dinge zu hinterfragen? Geht die alleinige Orientierung an wirtschaftlichen Wachstumswerten nicht an den Bedürfnissen des Menschen vorbei? Eine Gesellschaft wie die unsrige, die eine Ökonomie vorantreibt, die nur auf Zahlen angelegt ist, die ohne echtes Ziel nur wachsen will, die Werte vernachlässigt, die lässt die Menschen ratlos und leer zurück. Oder nicht?

Es heißt dann, der Mensch sei so veranlagt, sei vom Wesen her gierig, egoistisch und selbstsüchtig. Deshalb könne dieses System nur so funktionieren. Für Altruismus, Empathie und Rücksichtnahme sei kein Platz, teilen uns seit vielen Jahrzehnten die großen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger mit.

Daran mag ich nicht glauben und viele andere tun es auch nicht. Alle neuen Experimente aus der Verhaltensforschung zeigen, dass wir Menschen grundsätzlich altruistisch veranlagt sind, am Miteinander interessiert sind statt am Gegeneinander.

Aber was tun? Eine Menge Leute, oftmals selbst in hohen und verantwortungsvollen Positionen, sagen, das System werde sich nicht ändern, ja, der Mensch sei nicht zu ändern. Aber wer ist dieses System, will ich mal fragen? Wir alle machen doch dieses System aus. Und es ist einfach immer zu kurz gegriffen, wenn wir von den „anderen“ reden, von dem „System“.

Wenn wir wollen, dass Habgier, Egoismus in diesem System reduziert werden, wenn wir wollen, dass unsere Nachfahren noch einen lebenswerten Planeten vorfinden, wenn wir wollen, dass statt dumpfen Konsumsinns mehr das Geben und Teilen im Vordergrund steht, wenn wir uns nach einem faireren, gerechteren Miteinander sehnen, wenn es nicht mehr darum gehen soll, Dinge beherrschbar zu machen, sondern im Einklang mit ihnen zu leben, dann müssen wir alle bei uns selbst anfangen und den Gedanken einer gesellschaftlichen Zeitenwende anschließend in das System tragen. Es dauert schließlich 20, 30 Jahre bis ein echter Diskurswechsel stattfinden kann.

Gerade dieser Moment der Krise ist die Chance Neues aufzusetzen, sich mit Thesen und Beispielen für ein besseres, gerechteres und humaneres Miteinander Gehör zu verschaffen.

Und da ist natürlich auch die Politik gefragt, aber wir können nicht immer „die da oben“ für alles verantwortlich machen. Und dennoch ist es klar, dass wir Vorbilder brauchen, Persönlichkeiten, die vorangehen.

Die Menschen verstehen es nicht mehr, dass Milliardenkonzerne kaum Steuern in Deutschland zahlen, sie verstehen nicht, wieso ein Durchschnittsfußballer das 50fache von dem verdient, was eine Pflegerin bekommt, sie verstehen nicht, wie man sich bei einer Arbeiterwohlfahrt das Geld zustecken kann, sie verstehen nicht, dass 4,5 Milliarden Euro für Kampfjets ausgegeben werden sollen, die atomare Sprengköpfe abwerfen können, sie verstehen nicht, wieso Firmen Menschen entlassen, obwohl sie jahrelang fette Gewinne eingestrichen haben.

Gelebter Altruismus benötigt aber ein Gerüst, in dem er möglich gemacht wird. Wir brauchen Umgebungen, die ihn fördern. Doch dafür sind wir selbst verantwortlich. Es kann doch nicht sein, dass wir alle der Meinung sind, dass sich Dinge ändern müssten, die Veränderung aber dann immer woanders sehen, nie bei uns selbst.

Wie soll die Welt von morgen aussehen? Wie kann mein Beitrag sein, dass sich die Welt von heute schon besser anfühlt? Was werfe ich in den Pott rein, damit das Miteinander menschlicher wird? Was muss passieren, damit wir in unserer Zeit mehr Sinnvolles planen und umsetzen können? Was tue ich, dass meine Kinder auf mich stolz sein können?

Auch ich bin erschreckt, was angesichts der Pandemie so plötzlich alles verfügt werden kann. Ich hätte mir in vielen Punkten so ein konsequentes Durchgreifen in anderen Punkten schon mal früher gewünscht. Aber grundlegende Veränderungen passieren eben nicht von oben verordnet, sondern das müssen wir mittragen.

Ich fände es schade, wenn wir den Schalter einfach nur wieder auf „an“ stellen und weitermachen wie bisher. Ist das wirklich eine historische Chance für positive gesellschaftliche Umwälzungen? Die Antwort fängt bei der Frage an: Was bist du bereit dafür zu tun, fragt ein nachdenklicher Mounir.