Über Menschen auf der Flucht

von | Apr 22, 2024

Die Stimme von Zemfira, des russischen Superstars, erklingt viel zu laut in dem schwach beleuchteten tropischen Garten. Es ist zehn Uhr abends an der Südküste Sri Lankas. In Dickwella schlafen die meisten schon, wenn sie nicht gerade in den Backpacker- und Surferunterkunften des gehypeden Heriketya-Beachs wohnen. „Pochemu“, kommt aus der Boombox, „warum“. Der Refrain des Popstars, deren Lied „Ne Strelayte“ zur Hymne der russischen Antikriegsbewegung geworden ist, sorgt für leuchtende Gesichter und Bewegung.

Ina und Igor sitzen auf metallenen Gartenstühlen und wippen im Takt der Musik.

Amila, der srilankische Gastgeber der Unterkunft, der auch mal sieben Jahre in Japan arbeitete, hat spontan zu einem Barbecue geladen. Das russische Pärchen ist seit einer Woche in seinem „Secret House“ zu Gast.
Wie lange die beiden 39-Jährigen bleiben? Das wissen sie nicht. Wie auch? Seit dem Tag der russischen Mobilmachung im September 2022 leben Ina und Igor ein Leben im Ungefähren, bei dem man nicht so genau weiß, was morgen sein wird, was morgen sein könnte.

Es ist ein Leben, das man aus Romanen, aus Filmen kennt. Doch Ina und Igor sehen nicht aus wie Romanfiguren. Aber das, was sie erzählen, klingt ein wenig so. St. Petersburg, ihre Heimatstadt, werden sie nicht mehr wiedersehen, davon gehen sie aus. Ein Leben mit Wladimir Putin kommt für sie nicht mehr infrage. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist hoch.

Als Putin am 21. September 2022 alle wehrfähigen Männer an die Waffen ruft, ist für das Paar klar, dass sie das Land, ihre kleine Wohnung im Norden von St. Petersburg, in Oserki, verlassen werden. Die Teilmobilmachung ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Ina war mal Store-Managerin für Zara Home in der russischen Metropole gewesen, hatte aber ihren Job im Hinblick auf die politische Entwicklung in Russland schon vor einiger Zeit gekündigt. Ihr Mann war bis zuletzt im Tiefbau beschäftigt gewesen und auf Petersburger Baustellen für einen gewaltigen Tiefbohrer verantwortlich. Er verließ seinen Arbeitsplatz von heute auf morgen.

Am Tag der Mobilmachung fuhr er noch einmal zur Arbeit. „Ich hatte Angst, dass man ihn im Auto anhalten könnte und direkt zur Kaserne mitnimmt“, erzählt Ina. Ein kurzer Besuch bei seinen Eltern, die 200 Kilometer entfernt wohnen, war noch drin. Eine Stunde, und man sagte sich „Lebewohl“. „Meine Mutter weinte, mein Vater verstand mich, sagte aber wenig“, erzählt Igor. Ina, seine Frau, deren Eltern verstorben sind, machte währenddessen das kleine Gepäck fertig. „Es musste aussehen, als ob wir in einen Urlaub fahren, also konnten wir nicht viel mitnehmen“, erzählt sie.

Ihr Ziel mit dem Auto: Georgien. 2700 Kilometer entfernt. Dort soll ein Grenzübertritt noch möglich sein. Zu 100 Prozent weiß das Ehepaar das nicht, aber sie wollen es probieren. Das Flugzeug können sie sich nicht leisten. Tickets kosten mehrere tausend Euro. Sie fahren am Morgen des 22. September gen Süden. In zwei Tagen erreichen sie die Grenze – fast ohne Pause. An der Grenze angelangt müssen sie sich einreihen in eine schier endlose Blechlawine. 25 Kilometer lang steht ein Auto hinter dem anderen. Es bewegt sich wenig. An manchen Tagen kommen sie nicht einen Meter vorwärts. Die Nerven liegen blank, Menschen gehen aufeinander los. Andere Russen zahlen den patrouillierenden Soldaten viel Geld, um an dem Stau vorbeizufahren. Manch anderer verkauft an Ort und Stelle seinen Wagen und läuft mit der Familie zu Fuß weiter. Fünf Tage sind Igor und Ina im Auto, Tag und Nacht. Sie passieren etliche Posten, die wissen wollen, wo es hingeht. „Urlaub“, sagen die beiden und dürfen weiterfahren. Ina ist krank, hat Fieber, aber es muss weitergehen. Als sie tatsächlich die Grenze erreichen, inspizieren die Grenzsoldaten ihre Handys; schauen, ob sie Hinweise für regimefeindliche Apps oder Nachrichten sehen. Doch beide haben ihren Mobiltelefonen dank einer App namens „Switch“ eine andere Oberfläche und Applikationen verpasst. Sie dürfen weiterfahren. Sie haben es geschafft, sie sind in Georgien, in der Freiheit. Sie können es kaum glauben. „Wir sind noch 20 Minuten weitergefahren, erst dann haben wir angehalten, uns umarmt, geweint“, sagt Igor.

Sie bleiben zwei Wochen in Georgien und fahren dann weiter ins türkische Fethiye an der Südküste, wo sie sich nach einer Bleibe umschauen. Sie wollen in der Türkei bleiben, dort ein dauerhaftes Visum über die ersten 90 Tage hinaus erhalten. Doch es sind zu viele Russen in der Türkei. Der Antrag bei der Einwanderungsbehörde wird abgelehnt. Die beiden Russen müssen Anfang Januar 2023 wieder ausreisen. Sie fahren 1800 Kilometer zurück nach Armenien. Dort haben sie mit Ausbruch des Krieges ein Bankkonto eröffnet. Sie heben Geld ab und fahren weiter nach Batumi, in die georgische Küstenstadt am Schwarzen Meer. Die Preise für Wohnungen sind sehr hoch in dem russischen Nachbarstaat, die Nachfrage von geflüchteten Russen ist riesig. Ein Leben in Georgien kommt für beide nicht infrage. „Man hat dort keine Angst als Russe, aber es gab viele Anti-Russen-Plakate und man weiß nie, wie sich das Ganze dort weiterentwickelt“, sagen sie.

Igor und Ina überlegen, wo es hingehen könnte. Sri Lanka kommt schnell in die engere Auswahl. Die Visabestimmungen für Russen sind großzügig. Sie beantragen ein Online-Visum und erhalten ein Sechs-Monats-Visum. Sie nehmen den Flieger von Tiflis aus und landen Ende Januar in Colombo. Wirklich Zeit zum Durchatmen bleibt nicht. Igor hat einen Online-Kurs zum Thema IT und Programmierung gestartet. Er muss bald Geld verdienen. Das Gesparte wird nur noch ein paar Monate halten.

Ina recherchiert währenddessen, welches Land in der Welt einen schnellen Zugang zur Staatsangehörigkeit gewährt. Malta und Argentinien sind aktuell die beiden Favoriten. Viele schwangere Russinnen sind bereits nach Argentinien ausgeflogen, um sich und ihren Kindern dank der Geburt dort der ganzen Familie die Nationalität zu sichern. „Wir suchen einen Platz, wo wir vor unserer Regierung geschützt sind“, sagt Ina. „Wir wollen einfach irgendwo leben, wo kein Krieg ist, wo wir in Ruhe leben können, ohne Angst“, fügt Igor an. „Russe zu sein ist aktuell nicht sehr schön. Wir wissen heute nicht, wo wir morgen noch willkommen sind, aber den Ukrainern geht es noch viel schlimmer“, sagt der 39-jährige Russe. „Es ist einfach furchtbar, was dort passiert.“
In dem Garten lodert das Feuer auf dem Grill, auf dem noch ein Dutzend Garnelen liegen. Bier wird getrunken, die Luft ist warm – es könnte ein ganz normaler Urlaubsabend sein. Und doch wachen Igor und Ina am nächsten Morgen auf und wissen nicht, wo sie in sechs Monaten sein werden.

„Ja, ich bin kaputt. Sei nicht dumm, ich habe keinen Krieg erklärt“, singt Zemfira und für einen Moment werden die Gesichter von Igor und Ina ganz traurig.