VON DEN ÄLTEERN LERNEN
Wir haben 2022. Ich bin seit über 51 Jahren auf der Welt. Ich lebe in Deutschland. In Frankfurt. Und das ist ein Privileg, im Vergleich zu vielen hunderten Millionen anderer Menschen.
Ich habe ein Auto und könnte mir wahrscheinlich ein zweites leisten. Ich gehe einkaufen und muss nicht darüber nachdenken, ob ich 35 oder 45 Euro im Supermarkt zahle. Die Straßen sind so, dass Autos mit 250 Stundenkilometer hinwegrasen können. Ich durfte kostenfrei in die Schule gehen, studieren. Selbst um Mitternacht fühle ich mich sehr sicher. Mit meinem Reisepass kann ich überall hin, wo es mich hintreibt. Ich trinke sauberes Wasser aus dem Hahn und ich erlebe täglich den Luxus, dass wir mit diesem Wasser auch unsere Kacke durch die Kanalisation spülen. Menschen aus anderen Ländern sprechen mich an, wie sauber und ordentlich es bei uns zugeht. Wir haben eine Rechtsprechung, die unabhängig ist. Ich darf zu jeder Zeit meine Meinung zu allem und jedem sagen, wenn sie keinen anderen verletzt und wenn ich Lust habe und die allgemeinen Regeln einhalte, kann ich sogar eine Demonstration anmelden. Krieg kenne ich nur aus Erzählungen und Filmen.
Wie es ist, sein Haus, seine Familie, sein Hab und Gut, seine Ehre, seinen Stolz zu verlieren, mag ich mir nicht vorstellen. Es muss grausam sein.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ich so ein Leben wie dieses leben darf. Zu verdanken habe ich das im Allgemeinen der Generation vor mir, die dieses Land aufgebaut hat und im Speziellen unseren Vorfahren, die bemerkenswerte Lebensläufe hingelegt haben und sich in schweren Zeiten einen Weg in unsere Gegenwart gebahnt haben.
Wenn ich höre und erlebe, worüber sich manch einer heutzutage aufregt, beschwert und klagt, denke ich, schaut doch mal ein paar Jahre zurück und nehmt wahr, welch beschwerlichen Weg unsere Eltern teilweise gehen mussten.
Nehmen wir meine Familie: Mein Vater wurde in den 50-er Jahren in einem heruntergekommenen Viertel in Tunis mit acht Geschwistern groß. Nicht immer gab es da genügend zum Essen für alle auf dem Tisch. Er kämpfte sich durch, schaffte den Sprung nach Europa.
Meine Mutter verlebte ihre Kindheit in einem Kinderheim in der DDR in der Nähe von Leipzig.
Ich mag mir nicht vorstellen, was sie alles verarbeiten musste. Sie schaffte es dennoch, ein Leben im Wohlstand zu erleben.
Meine Schwiegermama erlebte den Weltkrieg noch selbst in den Bombenkellern Berlins. Sie sah mit eigenen Augen die zerstörten Straßen, Häuser und Viertel unserer Hauptstadt. Sie redet heute noch von dem Geruch verbrannter Häuser.
Und mein Schwiegerpapa zog nach dem Krieg als Knirps mit Familie und Bollerwagen aus Schlesien zu Fuß nach Westdeutschland.
Es sind unglaubliche Biographien, bei der jede einzelne ein ganzes Buch wert wäre. Und doch kennen wir ganz viele solcher Menschen.
Wir sollten sie fragen, löchern, zuhören, wie sie das Leben in schwierigsten Situation gemeistert haben. Es wären Lehrstunden für jeden von uns. Das Leben ist wunderbar, genau wegen all dieser verschiedenen Biographien und Wege. Wegen ihrer Kraft. Wucht. Wahrhaftigkeit.
Leipzig, Tunis, Frankfurt. Wir sollten uns immer daran erinnern, wer wir sind, woher wir kommen, welche Wege unsere Eltern gegangen sind.
Lasst uns mehr der Generation vor uns lauschen. Geht zu euren Eltern, euren Schwiegereltern, älteren Nachbarn, Patentanten und – onkeln und fragt sie: Was kann ich von euch lernen? Was habt ihr erlebt?
Ich garantiere euch, dass ihr ein paar mehr Antworten für all die Fragen bekommt, die uns aufgrund der aktuellen Herausforderungen beschäftigen. Und vielleicht können wir der einen oder anderen Aufgabe dadurch ein wenig gelassener entgegensehen, sagt ein nachdenklicher Mounir.