Tuesday Post 17 März 2020
Es erwischt vor allem die Alten. Jene, die unsere Gesellschaft in vielen Jahren nach dem Weltkrieg mitaufgebaut haben. Jene, die mit ihren Leistungen dafür verantwortlich sind, dass wir heute diesen Wohlstand genießen können. Jene, die in all den Jahren Krise, Widerstände, Notsituationen mit unglaublicher Stärke und Ausdauer überstanden haben. Sie sind 72 Jahre, 84 oder 91 Jahre alt geworden und dann taucht auf einmal dieser grippeähnliche Virus auf, der sie gesundheitlich bedroht.
Und langsam realisieren wir: Nach vielen Jahren des Rasens, Maximierens, Konsumierens, in denen wir uns vor allem Gedanken darüber gemacht haben, wie wir unseren Wohlstand vermehren können, wie wir auf der Karriereleiter vorankommen und das Materielle alles umschloss und beeinflusste, wird unser Blick auf einmal auf die Schwachen und Alten gelenkt. Alles daran setzen, dass man sich nicht infiziert ist der Akt der Solidarität, den wir in diesen schweren Tagen der ältesten Generation und auch den Risikogruppen schuldig sind.
Es ist eine Zeit, in der uns schmerzhaft Dinge bewusst werden, die wir im Alltag nicht mehr sehen konnten und vielleicht auch nicht wollten. Ja, wir Menschen sind verwundbarer als wir es vielleicht wahrgenommen haben und all der Wohlstand, den wir in den letzten Jahren genossen haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist für uns alle erschütternd zu erleben, wie verletzlich wir sind. Da hilft kein Klopapier, sondern es gilt, Zusammenhalt, Liebe und Rücksichtnahme zu leben. Wir sehen auch in diesen Krisen oftmals nicht das, was wir haben. Ein wunderschönes Zuhause und eine gesunde Familie ist schon so viel mehr als Millionen anderer Menschen in der Welt haben, das sollten wir wissen.
Die verletzbare Seite braucht keine Angstszenarien, sondern Zuwendung und Fürsorge. Da tut es gut, jenen Menschen in unserem Umfeld die Wertschätzung zu geben, die sie wahrhaftig verdienen: unseren Partnern, Kindern, aber auch den Pflegekräften, Krankenschwestern, Erzieherinnen, usw..
Die Klopapier-Haltung bringt uns in diesen Zeiten nicht weiter: Hauptsache, ich kann mir meinen Hintern ordentlich abputzen, der Rest ist mir egal. Es war dies die Haltung vieler Menschen in den letzten Jahren. Vielleicht schaffen wir es ja, ein wenig mehr nach links und rechts zu schauen: Wer braucht denn meine Hilfe, meine Liebe oder wer benötigt denn noch Klopapier?
Die Zeit, die kommt, wird von Verzicht und wirtschaftlichen Rückschlägen geprägt sein, aber vielleicht lassen wir statt Aktienkursen unsere Herzen wachsen. Ja, vielleicht ist es ein Stück so, dass wir zuletzt die wahren Werte ein wenig aus den Augen verloren haben.
Nutzen wir doch diese Zeit, um uns über uns selbst klar zu werden. Der Moment könnte nicht besser sein. Wie im Theater lässt uns die Pandemie ohne Requisite, Kostüme und Licht auf der nackten Holzbühne zurück. Kein Scheinwerfer mehr, kein Stück, das wir mehr aufführen müssen, keine Zuschauer da, die uns beklatschen. Keine Möglichkeit der Flucht und des Versteckens. Wir bleiben zurück, pur und auf uns selbst zurückgeworfen. Kein Vorhang verdeckt uns und das, was wir tun. Es ist die Zeit des Innehaltens, des Sich-Fragens. Was bleibt von mir, wenn im Außen nichts mehr ist? Wer bin ich, wenn meine Abzeichen und Etiketten nicht mehr getragen werden? Wie sieht meine Welt aus, in der man vielleicht den Job verliert?
Diese Zeit ist von Ängsten, Unsicherheiten geprägt. Aber es gilt diesen Ängsten ins Auge zu schauen. Was ist die schlimmste Konsequenz, wenn ein befürchtetes Szenario eintritt? Was macht mir eigentlich Angst? Was hilft mir, weniger Angst zu haben? Was steht in meiner Macht, damit ich mit meinen Ängsten besser umgehen kann?
Wer der Angst davonrennt verhilft ihr nur zu Größe und Einfluss. Dann ist sie mächtig. Und das führt dazu, dass wie im Moment Untergangsszenarien, Verschwörungstheorien und Fatalismus die Runde machen, so als ob sich dadurch irgendetwas verbessern könnte. Ängste gilt es immer ernstzunehmen, aber auch sie zu überprüfen, wie realistisch sie sind.
Wir haben doch keine andere Wahl als das anzunehmen was ist. Den Virus können wir nicht vertreiben. Die Entscheidungen der Regierung sind zunächst einmal für unser aller Wohl. Lasst uns also damit beschäftigen, was in unserer Macht steht. Wie kann ich den heutigen Tag so gestalten, dass ich am Ende sagen kann: Auch das war ein guter Tag? Lasst uns kreativ werden. Uns steht meistens viel mehr zur Verfügung, als wir so glauben. So abgedroschen das klingt, aber es gilt das Beste aus der Situation zu machen. Selbst unter Quarantäne. Jeder hat die Wahl, welche Perspektive er einnimmt.
Die großen Krisen der Menschheitsgeschichte haben immer gezeigt, dass daraus etwas Besseres entstehen kann. Auch dieses Mal kann die Krise eine starke Gegenreaktion provozieren. Vielleicht gehen wir als Gesellschaft gestärkt daraus hervor. Lasst uns alle also darüber Gedanken machen, wie unser konkreter Beitrag für die Meisterung der Krise aussehen könnte.
Unsere älteste Generation stand vor 75 Jahren vor einer ganz anderen Situation und hat aus dem Nichts ein wunderbares Land aufgebaut. Sie sollten uns als Beispiel dienen. Wir schaffen das AUCH, sagt deshalb ein nachdenklicher Mounir.