Tuesday Post 10 Dezember 2019
Als ich in meiner Zeit in München lebte, spielte ich mit einer lustigen Journalistentruppe hin und wieder Fußball. Mit dabei war auch Jürgen Schmieder. Der Kerl hatte einen echten Torriecher, doch was er noch besser drauf hatte war das Schreiben. Jürgen arbeitete für die Süddeutsche Zeitung und lebt mittlerweile in Kalifornien. Er machte damals ein interessantes Experiment und schrieb darüber ein Buch. Jürgen sagte 40 Tage lang die Wahrheit, seine Wahrheit.
Ich musste mich dieser Tage wieder daran erinnern. Jürgen machte damals eine krasse Zeit mit. Er wurde vom besten Freund verprügelt, schlief zu Hause öfters auf der Couch als ihm lieb war und hatte eine Steuernachzahlung. Er empfahl es keinem von uns, das Experiment zu wiederholen. Er sagte, die Probleme fingen schon beim „Guten Morgen“ an, wenn da einer vor dir steht, dem du eher die Pest an den Hals wünschst, aber doch nett zulächelst. Oder wenn man seiner Frau sagt: „Du nervst“, wenn sie dir gerade von einem wichtigen Problem erzählt. Wer ehrlich ist, sagt also die Wahrheit.
Doch was ist schon die Wahrheit? Dass dich deine Frau nervt hat nichts mit der Wahrheit zu tun, sondern mit deiner subjektiven Empfindung. Dass der Rauswurf aus der Firma fies und unmenschlich war ist ebenfalls deine Wahrheit. Ein anderer könnte das als Neustart, Erlösung oder was auch immer empfinden. Wer in der Bauindustrie heute so arbeitet wie vor 50 Jahren würde mit einem halben Bein im Gefängnis stecken. Damals galt Asbest als „Wunderfaser“, hervorragend geeignet für die Wärmedämmung. Zahnärzte füllten unsere Zähne jahrzehntelang mit Quecksilber, ein tödliches Gift. Zwei Beispiele für wissenschaftliche Wahrheiten, die ihre Gültigkeit verloren. Selbst bei fundiertesten heutigen Erkenntnissen gilt es also immer zu wissen: Das kann in ein paar Jahren schon als völlig falsch gelten. Nichts ist in Stein gemeißelt oder wie es Sigmund Freud sagte: „Die 100-prozentige Wahrheit gibt es genauso wenig wie 100-prozentigen Alkohol.“
Ich habe für mich festgestellt, wie wichtig es ist, zu versuchen, die eigene Wahrheit immer zu relativieren. Dass sie immer nur für mich persönlich als „Wahrheit“ gilt. Und ich habe gemerkt, dass dieses Vorgehen, das Zusammenleben enorm erleichtert. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin und ein Radfahrer direkt vor mir auf der Straße fährt und ich genervt ausrufen will: „Der Depp fährt viel zu weit in der Mitte“, dann ist das meine Wahrheit. Wenn ich wissen würde, dass dieser Radfahrer schon zweimal von spontan geöffneten Autotüren erwischt wurde, sage ich vielleicht: „Klug, dass dieser Radfahrer mehr auf sich achtet und Abstand zur Seite hält.“ Wenn ich meinen Chef für „unmenschlich“ halte, dann ist das meine Wahrheit. Wenn die Nachbarn zu laut sind ebenfalls. Interessanter als nachzuweisen, dass meine Wahrheit wirklich zutrifft, ist doch, sich zu fragen, was Auslöser, Trigger für diese Aussagen und Empfindungen sind.
Wieso sind mir die Nachbarn zu laut, wieso nervt mich meine Frau, warum fährt mir der Radfahrer zu weit in der Mitte? Und plötzlich merkt man, ja, da ist vielleicht eine Wahrheit, meine Wahrheit, aber da gibt es noch eine andere, vielleicht eine viel relevantere: Dass ich gern hätte, dass die Nachbarn meine Bedürfnisse berücksichtigen, dass mich meine Frau nervt, weil ich gerade selbst von einer Auseinandersetzung mit meinen Eltern reden wollte, dass ich mich über den Radfahrer aufrege, weil ich viel zu spät dran bin.
Dies sind, so glaube ich, die viel wichtigeren Wahrheiten. Deshalb lasst uns mehr über die eigenen Wahrheiten nachdenken, sie infrage stellen, die Ursachen berücksichtigen und im Anschluss daran spüren: Meine Wahrheit mag vielleicht noch meine Wahrheit sein, aber sie fühlt sich schon ganz anders und vielleicht besser an, sagt ein nachdenklicher Mounir.