Die Künstler – sie fehlen

von | Nov 3, 2020

Heute will ich Euch von Marvin erzählen. Marvin kenne ich von der Uni. Wir waren im gleichen Studiengang, Pädagogik, und hingen ab und zu miteinander herum, ohne die allerengsten Freunde zu sein. Marvin war ein cooler Kerl und auch ein wenig verrückt. Er konnte an dem einen Tag einen maßgeschneiderten Wildlederanzug aus Bali tragen und am nächsten Tag kam er mit lila Haaren in die Uni. Marvin liebte die Musik und er liebte sein Saxophon. Das ging soweit, dass er es sogar mit ins Bett nahm. Das Instrument war alles für ihn.

Er gab öfters mal kleinere Konzerte für uns, an der Uni oder im Park und das, was er aus seinem Saxophon holte, war wirklich beeindruckend und fesselnd. Er wollte Grundschullehrer werden, aber natürlich wurde er das nie. Stattdessen machte er seine Leidenschaft zum Beruf und wurde Saxophonist. Er spielte in einer recht erfolgreichen Jazz-Band. Einige Jahre nach dem Studium war ich auch mal auf einem Konzert in einem recht bekannten Keller in Frankfurt. Wir tranken danach ein, zwei Bierchen und er erzählte, wie glücklich er mit der Musik sei und dass er immer noch mit seinem Saxophon ins Bett ging. Ich musste sehr lachen.

Dieser Tage traf ich Marvin zufällig wieder. Sein spitzbübisches Lachen war verschwunden, sein Gesicht sah eingefallen aus. Die Worte presste er wie Zahnpasta aus der Tube hinaus. Ihm ging es nicht gut. Der Corona-Virus hatte ihm zugesetzt, nicht körperlich, aber vor allem mental und ja, auch finanziell.

Er erzählte, wie er beim ersten Lockdown noch auf seinem Balkon für die Straße spielte und wie sich die Nachbarn damals gefreut hatten. „Heute beschweren sie sich und sagen, das nervt“, so Marvin. Er sprach von den vielen Stornierungen seiner Auftritte. Dass er vom Kämpfen müde sei. Dass ihm Geld fehle. Dass ihm aber vor allem das Publikum fehle, diese magische Verbindung am Ende eines Konzerts, der Applaus.

Bislang hatte er immer das Gefühl gehabt, dass sein Dasein Sinn mache, weil er den Menschen mit seiner Art, Musik zu spielen, etwas geben könnte. Doch die Menschen hören nicht mehr zu. Die Säle, die Keller, die Hallen, sie sind leer. Ein Saxophon ohne Zuhörer, das sei aber wie Weihnachten ohne Umarmung, sagte er.

Seine Ersparnisse sind aufgebraucht, klar, nach sechs Monaten ohne große Einnahmen. Im Sommer hatte er immerhin zwei, drei Freiluftkonzerte. Eine Firma hatte ihn und seine Band gebucht, ein anderes Mal spielten sie tatsächlich auf einem Stadtfest.

Irgendwie hat er es bis hierhergeschafft – ohne irgendeine staatliche Unterstützung. Doch jetzt kommen wieder vier Wochen, in denen Marvin verdammt einsam sein wird. Allein sein Saxophon ist ihm treu. Natürlich hat das immer noch seinen Platz im Bett. Und als er das sagte, da war es das einzige Mal, dass ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

Von den Marvins gibt es hunderte, ja tausende, in diesem Land. Sie zahlen wie viele andere einen hohen Preis für das Wohl aller in diesen schweren Zeiten. Ich hoffe, dass diese Musiker, Künstler, Theater-Schauspieler, Sänger usw. auch nach dieser schweren Zeit noch da sind und uns mit dem beglücken, was für unser Leben unerlässlich ist: Inspiration, Schönheit und eine Menge Gefühl, sagt ein nachdenklicher Mounir, der Marvin gar nicht kennt, aber zu kennen glaubt….