Der Mann, der die Lust am Fußball verlor

von | Aug 18, 2020

Ich erzähle euch nun die Geschichte eines Mannes, der einst den Fußball über alles liebte.

Schon als Kind war er wie besessen vom Kicken. Er verpasste keine Sportschau, kein Länderspiel. Er verbrachte jede freie Minute mit seinem Lederball im Freien. Gab es große Turniere sprang er oftmals in der Halbzeit in den Hinterhof, um die gerade gesehenen Tricks seiner Idole auf Asphaltboden mit imaginären Gegnern auszuprobieren. Der Junge war fußballverrückt. Und selbst die Nachbarn ließen ihn stundenlang lärmend gegen die Hauswand schießen.

Der Junge hatte aber nicht nur große Leidenschaft, sondern auch Talent. Und so war es nicht überraschend, dass ihn ein Bundesligaklub mit 16 Jahren verpflichtete. Er war schnell, trickreich, hatte einen Mords-Schuss und startete im neuen Verein durch. Schon mit 18 Jahren hatte er seinen ersten Einsatz in der Bundesliga. Er spielte für die U-21-Nationalmannschaft und galt als einer der talentiertesten Spieler des Landes. Mit 20 wurde er zur A-Nationalmannschaft eingeladen und wenig später kaufte ihn ein anderer, sehr reicher deutscher Klub. Auch dort sorgte er für Furore.

Der kleine Junge war ein echter Star geworden. Noch immer liebte er es, mit den Mannschaftskameraden auf dem Platz zu stehen, Tag für Tag zu kicken und mit seiner Schnelligkeit auf den Außen entlangzuschießen. Doch die Erwartungen stiegen und manchmal, wenn er ganz für sich war, machte ihm das zu schaffen. Aber wem sollte er es erzählen, dass er Angst hatte zu versagen, dass er sich nicht immer so toll fühlte, wie er es nach außen darstellen musste? Er behielt diese Gefühle für sich. Das wollte keiner hören. Kein Berater, kein Trainer, kein Fan. Er musste funktionieren. Und das tat er ausgesprochen gut. So gut, dass ihn tatsächlich einer der reichsten Klubs der Welt kaufte.

Er zog in eine große europäische Hauptstadt und verdiente so viele Millionen in einem Jahr, dass es für zehn Leben langte. Da war er gerade 22 Jahre alt. So viel Geld – allein für ihn? Er versuchte nicht daran zu denken, doch das war gar nicht so einfach. Denn überall in den Zeitungen stand immer, wie viel er gekostet hatte und was er verdiente. Das gehörte wohl von nun an dazu. Aber noch überwogen die schönen Momente.

Wenige Monate später gehörte er der besten Mannschaft der Welt an. Er war in einem fernen Land Weltmeister geworden und hatte im Finalspiel vor über eine Milliarde Menschen an den Fernsehgeräten das entscheidende Tor vorbereitet. Gerade eben hatte er doch noch selbst seinen Idolen bei WM-Turnieren nachgeeifert und nun kannte man seinen Namen in Peru, Tansania und Neuseeland.

Mit 23 Jahren hatte er das höchste Ziel erreicht, was man als Fußballer erreichen kann. Was sollte jetzt noch kommen? Von nun an war er „der Weltmeister“. Die Fans verlangten, dass er fortan auch so spielen solle. Die Bürde wuchs von Woche zu Woche. Eine normale Leistung langte nicht mehr. Das war nicht genug.  Und seine Gegenspieler verdreifachten ihren Einsatz, wenn sie gegen ihn spielten.

Alles wurde mühsam und schwer. Dabei musste er nach außen so tun als sei alles in Ordnung. Der junge Mann fiel in ein Loch. Er kam mit dem Druck nicht mehr klar und wurde immer schlechter. Und irgendwann im Herbst war er nur noch Ersatz und der Trainer redete nicht mehr mit ihm. Er fühlte sich nicht verstanden, leer und ausgebrannt. Aber es tat ihm gut, nicht mehr im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stehen. Fast war er froh, nicht spielen zu müssen. Endlich Ruhe. Endlich war dieser Druck weg. Aber wer wollte das schon hören? Nach außen blieb er der coole, starke Erfolgsprofi, nach innen spürte er Nutzlosigkeit und Zweifel. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass er mal die Lust am Fußball verlieren könnte. In jenen Tagen vermisste er zum ersten Mal in seinem Leben jenes Gefühl aus den Kindertagen.

In der Öffentlichkeit ahnte man davon nichts, man verspottete ihn nur noch. Das verletzte ihn. Vielen machte es beinahe Spaß, ihm seinen Absturz vorzuhalten, so empfand er es.

Er flüchtete wenige Monate später zurück in sein Heimatland. Was er suchte war aber nicht der Erfolg, sondern das Gefühl, was ihn in Kinderjahren tagtäglich zum Bolzen antrieb: diese unbändige Lust, dieser Spaß, der Kugel hinterherzujagen, sich mit anderen zu messen. Doch diese Lust spürte er immer seltener. Nach außen spielte er weiter die Rolle, die ihm alle zudachten. Aber immer häufiger empfand er den Gedanken, alles hinzuschmeißen als Befreiung. Aber wer würde das verstehen: Mit 27 Jahren etwas zu beenden, wovon Millionen von jungen Menschen träumten? Er gewann mit zwei Klubs zwei Titel, aber die Leistungen blieben durchschnittlich. Sein Verein schob ihn ab. Immerhin lief sein Vertrag weiter. Für zwei Jahre tauchte er im Ausland ab.

Sein Name stand fortan für einen, der satt war, für einen, bei dem es nicht mehr reicht, für einen, der dem Geschäft nicht gewachsen war. Er hatte Transfersummen von über 100 Millionen Euro bewegt, war Weltmeister und doch fühlte er sich als „Looser“. Auf der Suche nach seiner Fußball-Lust hatte er sich verloren. Mit 29 Jahren entschied er: Es ist Schluss. Lange bevor der Körper streiken würde hatte sein Geist gestreikt. Seine Seele. Der Name dieses Menschen: André Schürrle.

Ohne Namen lassen sich Geschichten manchmal besser erzählen, weil die Leute besser zuhören, wenn sie die Schubladen zulassen.

Lasst uns nicht vergessen, dass hinter jeder Schlagzeile, hinter jeder Geschichte ein Mensch steht. Schade, dass André Schürrle bis zum Karriereende warten musste, um über seine Seelenzustände zu sprechen. Denn es braucht Vorbilder, die voran gehen, um für einen Sinneswandel zu sorgen, wenn es um den öffentlichen Umgang mit Misserfolg und Zweifeln geht.

Krisen sind immer eine Chance für uns Menschen. Wir können daran wachsen, wenn wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen, aber vor allem, wenn wir uns mit unseren anderen, schwachen Seiten zeigen dürfen. Manche nennen sie Schattenseiten, ich sage dazu Wachstumsseiten. Denn aus Krisen kann eine Kraft entstehen, die uns Menschen auf eine nächste höhere Ebene befördert. Das nennt man dann Reife. André Schürrle musste dafür seine Karriere beenden. Es wäre schön, wenn seine Nachfolger solche Krisen im Spielermodus bewältigen könnten, ohne sich abzuwerten oder abgewertet zu werden, sagt ein nachdenklicher Mounir.

*Fußball-Spieler in Krisen zu begleiten, ihnen Möglichkeiten zu offerieren, wie sie mit Druck, Rückschlägen und Misserfolgen umgehen können, gehört zu meinem festen Coaching-Repertoire. Mehr Informationen dazu auf meiner Homepage.