DEMOKRATIE

von | Mrz 1, 2022

Stell dir vor, du hast eine bestimmte Meinung, eine Haltung, die sich maßgeblich von der deiner Regierung, deines Präsidenten unterscheidet. Du gehst also auf die Straße, weil du das Gefühl hast, dass es wichtig ist, deine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Du triffst dich vielleicht mit anderen, die so denken wie du und bringst mit deiner Anwesenheit, mit deinem Plakat, mit deiner Fahne, deiner Farbe im Haar deine Überzeugung zum Ausdruck. Du beschimpfst keinen, du drohst keinem, du greifst niemanden an, nein, du bist einfach nur da – mit dir und deiner Überzeugung. Und dann stehst du da und wirst plötzlich verhaftet, wirst zum Kriminellen, kommst ins Gefängnis, wirst geschlagen, nur weil du eine andere Meinung hast als deine Regierung.

Genau das passiert in diesen Tagen in Russlands Städten, wo tausende von friedlichen Demonstranten verhaftet wurden. Ihnen drohen Verurteilungen, sie müssen Gefängnisstrafen fürchten. Sie setzen damit ihre Zukunft aufs Spiel in einem Staat, in dem Oppositionelle auch getötet werden, wenn sie ihre Meinung zu lautstark und zu einflussreich äußern. Es sind mutige Menschen, die ihrem Regime ihre Meinung entgegenschleudern, die einstehen für das, was sie denken und fühlen. Der russische Staat hat Angst vor diesen Menschen, deshalb reagiert er auch so aggressiv. Er hat Angst, dass sich freie Gedanken übertragen könnten, dass Menschen Dinge infrage stellen könnten, dass Menschen nicht manipulierbar bleiben.

Ich bewundere die russischen Menschen, die für ihren Protest so viel Risiko auf sich nehmen. Menschen, die in einem undemokratischen Staat leben, wo regierungskritische Denkweisen und Haltungen ins Gefängnis führen.

Umso beschämender ist die Erinnerung an die Menschen in Deutschland, die nach wie vor mit Slogans wie „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ oder „Freiheit, Freiheit“ durch die Innenstädte laufen, weil sie vermeintlich vom deutschen Staat in der Pandemie unterdrückt werden. Demonstranten, die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen sprechen von Diktatur, rufen „Freiheit“: In den Ohren der russischen Demonstranten muss das wie eine Verhöhnung klingen.

Der Blick nach Russland, Weißrussland und vor allem in die Ukraine hilft dem einen oder anderen vielleicht, das richtige Maß in der Bewertung und Beurteilung seiner eigenen Situation hier in Deutschland zu finden.

Ich habe selbst als 20-Jähriger drei Jahre in Tunesien gelebt, wo unter dem autokratischen Ben Ali polizeiliche Willkür und Unterdrückung politischer Gegner zum Alltag gehörten. Als Kind bin ich in einer sozialistischen Diktatur geboren worden und hatte das Glück, dort nicht aufwachsen zu müssen. Und einen Krieg, in dem Menschen wirklich um ihre „FREIHEIT“ kämpfen, habe ich glücklicherweise noch nicht am eigenen Leib erlebt. Ich schätze deshalb die Möglichkeiten in unserem Land, Demokratie und Freiheit zu leben.

Vielleicht geht es manchen in unserem Land einfach zu gut, dass sie die Vorzüge und Errungenschaften Deutschlands – trotz aller Probleme und schlechten Entwicklungen – einfach nicht sehen wollen.

Du darfst morgen auf die Straße gehen und die deutsche Unterstützung für die Ukraine offen kritisieren. Du darfst auch Scholz einen Versager nennen und Baerbock an den Pranger stellen – wenn du magst. All das darfst du. Also, bitte, ihr da draußen, die ihr gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert, redet nie wieder von Diktatur, wenn gleichzeitig Russen ins Gefängnis müssen, weil sie nur eins wollen: dass der Krieg endet.

Meine Gedanken sind bei allen Menschen, die sich gegen diesen furchtbaren Krieg einsetzen, sagt ein nachdenklicher Mounir.

#mounirstuesdaypost: immer am ersten Dienstag im Monat!