BILDUNG, BILDUNG, BILDUNG!
Es gibt ja mittlerweile unglaublich mutige Politiker, ja auch Kolumnisten, die echt ne Traute haben. Die sagen nach den Ereignissen in Stuttgart und Frankfurt tatsächlich so Sachen wie: „Die Täter waren vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund.“ Und in der Bevölkerung nicken viele:
Ja, das sind genau solche.
Solche, die dunkler aussehen als andere.
Solche, die unaussprechlichere Namen haben als andere.
Solche, die anders reden als andere.
Solche, die aus Vierteln kommen, wo noch mehr von solchen wohnen.
DIE sind das Problem.
So als ob man damit sagen könnte: Wäre der Ali nur so wie der Jochen, die Ayse so wie die Susanne, ja dann hätte man den ganzen schlimmen Schlamassel nicht. Also recherchieren manche Polizisten, Politiker und auch einige Medienvertreter, um ja nur eins festzustellen: Schaut, alles junge Menschen mit Migrationshintergrund. Schon deutsch, aber doch anders.
Eines ist klar: Was viele dieser jungen Menschen am vergangenen Samstag auf dem Frankfurter Opernplatz veranstalteten, ist eine Sache für den Rechtsstaat. Menschen, die sich kriminell verhalten, müssen dementsprechend verurteilt werden. Mit allen Mitteln, die das Rechtssystem hergibt. Punkt. Wer mutwillig Polizisten attackiert, Menschen verletzt, zuschaut und applaudiert, wenn es um Körperverletzung geht, muss Sanktionen erleben. Zumal einige Täter seit langem polizeilich bekannt sind und es nur darauf angelegt hatten, es mal ordentlich krachen zu lassen…
Also bitte schön, ermitteln und bestrafen!
Und dann, ist es mit Verurteilungen, Platzabsperrungen und mehr Polizeipräsenz getan? Langt es, nur an den Symptomen herumzudoktern und nicht an den Ursachen?
Das Ganze soll ja so unaussprechlich sein. Verstehe ich gar nicht. Es ist gut so, dass uns ein Thema serviert wird, vor dem wir gerne mal die Augen verschließen. „Endlich“ muss man fast sagen. Es wurde Zeit, denn Deutschland hat ein Problem mit einem Großteil seiner Kinder. Das ist Fakt. Und ein Großteil der Kinder hat ein Problem mit Deutschland. War vielen bis dahin vielleicht egal, aber wenn diese Problematik in die schicken Innenstädte getragen wird, kann man die Augen nicht mehr verschließen.
Viele aus dieser zweiten und dritten Einwanderergeneration sind deutsch, fühlen sich aber nicht so.
Sie gehören hierher, sagen aber nicht: Das ist mein Land!
Sie hören, dir stehen alle Türen offen, ganz oft geht aber kein Weg weiter.
Man hat beinahe das Gefühl, dass es für viele die „echten“ Deutschen gibt und dann gibt es jene „mit Migrationshintergrund“. So eine Haltung ist wenig hilfreich, damit wir zusammenwachsen.
Wie fühlt sich jemand, dem immer klargemacht wird: Du bist nicht so wie wir? Der sich Mühe geben soll all das, was er im kulturellen und religiösen Gepäck mitbringt abzuwerfen, um irgendwie anerkannt zu werden. So funktioniert das nicht. Oder sieht das, was zuletzt in den deutschen Städten passiert danach aus? Es muss von beiden Seiten eine Bereitschaft da sein, Lösungen zu finden. Die Realität gibt nichts anderes her. In Frankfurt haben 50 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. Das können viele „nicht gut“ finden, aber das ändert nichts.
Ich glaube tatsächlich, dass viele der heutigen Probleme nicht wären, wenn Deutschland schon in den 70-er-Jahren den vielen tausenden von „Gastarbeitern“ einen Zugang zur Staatsbürgerschaft ermöglicht hätte. Wenn diese hier hätten leben können als zu Deutschland dazugehörig bei gleichzeitiger Akzeptanz ihrer Herkunftskultur. Vieles würde heute besser laufen.
Es hätte sich eine übergeordnete Kollektividentität bilden können, so wie in den USA. Es langt nämlich tatsächlich nicht, die Herkunftskulturen als ein zusammenhangloses „Multi-Kulti“ zu leben. Es braucht eine übergeordnete Identifikationsmöglichkeit für ein neues Deutschland.
Ein Deutschland, in dem Demokratie und Grundgesetz für alle die Referenzpunkte sind.
Ein Deutschland, in dem aber auch die Herkunftskulturen respektiert und gefördert werden. Die Brauchtumspflege der Schlesier und Sudetendeutschen in den 50-ern war nichts anderes.
Ein Deutschland, in dem Menschen mit Migrationshintergrund gezielt gefördert werden, um nicht schon beim Start ins Leben chancenlos abgehängt zu werden.
Die Daten sind eindeutig: Wenn du als deutsches Kind mit Migrationshintergrund geboren wirst, hast du viel weniger Chancen als ein Kind ohne Migrationshintergrund.
Grundsätzlich haben wir in Deutschland das Problem, dass hier „soziale Unterschiede“ weitervererbt werden. Nur 24,4 Prozent der jungen Erwachsenen erwerben laut PISA einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern. Zum Vergleich: In anderen Industrieländern gelingt das im Schnitt 41,1 Prozent.
Der zentrale Punkt sind dabei Unterschiede im Bildungsstand zwischen Personen mit und ohne Migrationserfahrung.
Jeder Dritte junge Mensch mit Migrationshintergrund lebt in einer Familie, die von Armut gefährdet ist. Bei Familien ohne Migrationshintergrund ist das nur jeder Zehnte.
Kinder aus Migrantenfamilien sind ärmer, , haben viel öfter Eltern, die keinen Berufsabschluss haben, besuchen weniger oft Krippen und Kindergarten, sprechen dadurch viel schlechter Deutsch als andere Kinder und haben aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse einen Startmakel, der sich kaum mehr beheben lässt.
Wenn Kinder mit Migrationshintergrund bis zu ihrem dritten Lebensjahr eine Krippe besucht haben, vergrößert sich die statistische Wahrscheinlichkeit, später ein Gymnasium zu besuchen, um rund 55 Prozent!
Wenn du in Deutschland geboren bist, aber Eltern aus dem Ausland hast, schafft aktuell nur jeder zehnte das Abitur, hast du Eltern ohne Migration ist es jeder Vierte! Und in Hauptschulen haben im Schnitt doppelt so viele Schüler Migrationshintergrund.
Das ist die Realität.
Es braucht also eine gezielte Sprachförderung und individuellere Betreuung von Kindern, die aus einem bikulturellen Milieu kommen. Dafür werden aber Fachkräfte benötigt. Die Bertelsmann-Stiftung hat vor vier Jahren berechnet, dass im gesamten Bundesgebiet 107.000 zusätzliche Vollzeitkräfte notwendig sind, um die empfohlenen Betreuungsschlüssel umzusetzen. Es sind nicht weniger geworden.
Es gibt also eine Menge zu tun, wenn wir das Problem ernst nehmen wollen. Viele der jungen Menschen vom Opernplatz sind vielleicht verloren. Um nachkommende Generationen für ein neues Identitätsgefühl zu gewinnen, braucht es vor allem Bildung, Bildung, Bildung. Harte Parolen, ausgrenzende Botschaften helfen nicht viel. Nur Bildung schafft Perspektiven. Und die fehlt leider vielen jungen Menschen. Lasst uns in Lösungen denken und nicht in Forderungen, denn sonst geht der Riss in unserer Gesellschaft noch weiter auf, sagt ein nachdenklicher Mounir.